Wir erinnern uns an
Rosa Lindeck
Antifaschistischer Stadtrundgang 2004 in Kaiserslautern:
Die Enkelin Irene Quetting hinterließ uns folgenden Bericht:
Als meine Großmutter uns schrieb, daß die Deportation nahe bevorstehe, fuhren meine Mutter und ich nach Würzburg, um Abschied zu nehmen. Es war grausig. Schon vorher hatte Tante Frieda ihre Wohnung aufgeben müssen, und nun waren die beiden alten Frauen in einer Art Sammellager untergebracht, das man in einem ehemals eleganten jüdischen Altersheim eingerichtet hatte. Es war natürlich hoffnungslos überfüllt. Die Leute waren alle am packen. Sie hatte Listen bekommen, worauf genau die Gegenstände verzeichnet waren, die sie mitnehmen durften. Es war wenig genug, außerdem war das Gewicht begrenzt. Da saßen sie nun vor ihren geöffneten Koffern und probierten aus: „Vielleicht ist dies hier praktischer - ach nein, vielleicht das!“ Das Einpacken und wieder Auspacken nahm überhaupt kein Ende. Eine einzige Garnitur Bettwäsche durfte jeder mitnehmen. Sie hatten sie alle dunkelblau gefärbt. „Daß man den Dreck nicht so sieht“, sagten sie mit einem traurigen Lächeln. Laut gejammert hat keiner. Ich habe diese Menschen für ihre heldenhafte Ruhe sehr bewundert. Meine Großmutter erzählte uns, wie der Abtransport planmäßig vor sich gehen sollte. Am Abend mußten sie zum Abmarsch bereit sein. Dann sollten sie in einen Park geführt werden, wo sie bis zum Morgen bleiben sollten. Es war Herbst und die Nächte schon sehr kalt. Gegen Morgen sollten sie dann verladen werden zum Abtransport. In Güterwagen ohne Sitzgelegenheiten, ohne Toilettenanlagen, ohne Heizmöglichkeiten, eng zusammengepfercht Männlein wie Weiblein, so waren die alten Leutchen tagelang - vielleicht sogar wochenlang- unterwegs nach Theresienstadt. Viele haben dieses Ziel gar nicht lebend erreicht. Zurückgekommen ist niemand. Aber meine Mutter erhielt eines Tages einen Brief von einer Würzburger Bekannten. Amerikanische Verwandte hatten sie für 20.000.-- US Dollar (Devisen!) freigekauft. Auch sowas gab es! Sie schrieb, daß meine Großmutter in ihrem Beisein gestorben sei. In Theresienstadt wurden die Leute nicht vergast - man hat sie einfach verhungern lassen.
Deportationsliste von Würzburg ins Verderben nach Theresienstadt
Todesschein für Frieda Reinstein
In der „dritten Anordnung aufgrund der Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden“, datiert auf den 21. Februar 1939 und ganz ordentlich im Reichsgesetzblatt abgedruckt, heißt es: „Alle Juden“ haben die in ihrem Eigentum befindlichen Gegenstände aus Gold, Platin oder Silber sowie Edelsteine und Perlen“ abzuliefern, und zwar „binnen zwei Wochen nach dem Inkrafttreten dieser Verordnung“ bei den „vom Reich eingerichteten öffentlichen Ankaufsstellen“.
Schon im Vorfeld verhängte Göring für die Reichspogromnacht am 9. November 1938 eine „Sühneleistung“ in Höhe von einer Milliarde Reichsmark, welche die Juden in Deutschland aufzubringen hatten. Dafür sollten sie auf ihren privaten Goldbesitz und Schmuck zurückgreifen. Am 3. Dezember 1938 wurde den Juden verboten, ohne Genehmigung des Wirtschaftsministeriums Edelmetalle oder Schmuck zu erwerben oder zu verkaufen. Die Wertsachen mußten in Depots bei den Devisenbanken hinterlegt werden.
Jetzt im Februar 39 durften deutsche Juden von ihrem Eigentum pro Person ein vierteiliges Silberbesteck und Trauringe behalten. Aber dies würde ihnen auch noch genommen werden. Die Nazis brachen noch den Leichen das Zahngold aus.
Selbstverständlich nannte auch Frau Lindeck ein Silberbesteck ihr eigenes. Und weil man ja auch Gesellschaften gab, bestand es aus 24 Gedecken und entsprechend vielen Vorlagebesteck. Nach der überschnellen Flucht aus Kaiserslautern waren viele Haushaltsdinge der Familie Lindeck eingelagert worden und nun das Silberbesteck war nicht vollständig. Es fehlte die Suppenkelle.
Was tun?
Was sollen die Nazis nur von Lindeck denken, wenn wir ein unvollständiges Besteck abliefern? So sind die Juden, schlampig und unordentlich, wissen noch niemals wo sie die Suppenkelle hingelegt haben, wie bei Hempels unter dem Sofa.
Schlimmer noch als der Raub ist die Vorstellung, dass wir deren Vorurteile noch bestätigen.
Also wurde für viel Geld eine Ersatzkelle in Silber besorgt - was ja schon verboten war. Und dann lieferte man das gesamte Besteck einschließlich der erst gerade illegal erworbenen Suppenkelle den guten deutschen Nazis ab.
Als die Überlebenden nach dem Faschismus die Überreste der noch geretteten Haushaltgegenstände sortierten, da fand sich die alte Silber-Suppenkelle. Sie war nun das einzige Teil des ehemals großen Silberbestecks.
Die Kelle ist heute ein stummer Zeuge des damaligen Verbrechens und eines angepassten Verhaltens assimilierter Juden. Die Kelle ist heute im Besitz meiner Tochter Katrin, deren zweiter Vornamen der ihrer Ururgroßmutter gleich Rosa heißt. Niemand ist vergessen.