Irene Quetting, geborene Ackermann, 1918 - 1999
Eine Großmutter schreibt an ihr Enkelkind
Meine liebe Irene,
Diesen Brief würde ich niemals schreiben, wenn mich Dein Vater nicht darum gebeten hätte. Er entspricht nicht meiner Lebensphilosophie, für die ich in der Bibel eine schöne Formulierung gefunden habe.
Psalm 103, Vers 15 und 16:
„Ein Mensch ist in seinem Leben wie Gras, er blühet wie eine Blume auf dem Felde, wenn der Wind darüber geht, so ist sie nimmer da, und ihre Stätte kennet sie nicht mehr.“
(Übersetzung von Luther)
Nun, Dein Vater ist anderer Meinung. Er will nicht, daß ich wie Gras vergehe, sondern er glaubt, daß es Dir bei Deiner Selbstfindung helfen könnte, wenn ich für Dich aufschreibe, woher wir kommen, und wie es uns im Faschismus ergangen ist. Viele Deiner Vorfahren sind umgekommen, ermordet in den KZ's der Nazis. Andere sind geflohen - ausgewandert nach Amerika. Einige, weiter entfernte Verwandte, mit denen ich aber keine Kontakte habe, leben im heutigen Israel. Möge Dir das immer bewußt bleiben, und mögest Du dieses Bewußtsein auch weitergeben an Deine Kinder. Ich will aber der Reihe nach erzählen.
Daß ich eine jüdische Mutter hatte, wußte ich lange nicht, und vor 1933 war das auch nicht so wichtig. Wir und die Freunde meiner Eltern waren sehr national. Religiös waren wir alle nicht, vielmehr lautete unser Glaubensbekenntnis: „Deutschland, Deutschland über alles“, wobei ich etwas richtigstellen muß. Dieses „Deutschland über alles“ wird heute so oft falsch interpretiert. Wir meinten damit keineswegs, daß Deutschland über die ganze Welt herrschen sollte, sondern uns, als Deutschen, ging die Liebe zum deutschen Vaterland über alles andere in der Welt. Du mußt Dir diese Einstellung sehr verinnerlichen, wenn Du verstehen willst, was man uns damit angetan hat, daß man uns plötzlich unser Deutschtum absprechen wollte.
Eines Tages kam Martha als Kinderbetreuerin in unser Haus und ich liebte sie sehr. Ich war damals 8 oder 9 Jahre alt. Sie paßte ausgezeichnet zu uns, denn sie war genauso fanatisch patriotisch wie wir. Darüber hinaus war sie auch noch stockprotestantisch, aber das störte nicht weiter, denn wir waren ja auch protestantisch. Martha brachte uns vielerlei bei, unter anderem auch Antisemitismus. Bis dahin hatte ich gar nicht gewußt, daß es Juden überhaupt gibt. Ich hatte sie für ein altes, sagenhaftes Volk der Bibel gehalten, das längst verschollen ist, falls es überhaupt je existiert hatte. Nun mußte ich von Martha erfahren, daß die Juden mitten unter uns leben, und daß sie sehr böse Menschen sind, die kleine Kinder quälen, Leute ausnützen, und im übrigen die ganze Welt betrügen.
Mein neues Wissen beschäftigte mich sehr, und so konnte es meiner Mutter nicht lange verborgen bleiben. Sie war natürlich entsetzt, aber sie war auch feige. Sie brachte es nicht fertig, zu ihren Kindern zu sagen: „Schaut her, Eure eigene Mutter stammt von jüdischen Eltern ab.“
Stattdessen wurde Martha mit dieser Aufklärung beauftragt.
Martha war zwar Antisemitin, aber sie war auch ein grundanständiger Mensch, und sie hing mit großer Liebe an meiner Mutter. Auch meinen jüdischen Großvater verehrte sie sehr. Als er gestorben war, wurden wir Kinder wegen des Trubels im Hause mit Martha zu einem Spaziergang weggeschickt. Sie ging mit uns zur Eselsfürth. Das war ein beliebtes Ausflugslokal und wir kannten die Wirtsleute gut. Die Wirtin setzte sich zu uns an den Tisch und es kam zu einer Unterhaltung, die ich nie vergessen habe.
Wirtin: „Was gibt's Neues?“
Martha: „Herr Lindeck ist in der vergangenen Nacht gestorben.“
Wirtin: „So ein Ehrenmann!“
Martha: „Ja, der war wirklich ein Ehrenmann!“
Sie sahen sich dabei auf merkwürdige Weise an, und ich dachte: „Was redet Ihr nur für einen Unsinn, als ob nicht auch Ehrenmänner sterben müßten!“
Damals wußte ich noch nicht, daß mein Großvater Jude war. Heute weiß ich, daß die Verwunderung der beiden nicht der Tatsache galt, daß mein Großvater hat sterben müssen, obwohl er ein Ehrenmann war, sondern vielmehr, daß er ein Ehrenmann war, obwohl er Jude war. Juden sind nun mal in der Vorstellung der Leute keine Ehrenmänner und darum war es auch so leicht für die Nazis, die Menschen gegen sie aufzuhetzen. Ich war ja selber dieser Propaganda auf den Leim gegangen. Aber jetzt hatte Martha den Auftrag erhalten, meinen Bruder und mich über unsere jüdische Abstammung aufzuklären. Sie machte das sehr geschickt und zwar so, daß sie gleichzeitig sich selbst und ihren Antisemitismus damit rechtfertigte.
Wenn wir spazieren gingen, liebte es Martha, uns die Lebensgeschichte großer deutscher Männer nahezubringen. Sie war eine gute Erzählerin und wir hörten ihr gerne zu. Luther und den alten Fritzen hatten wir bereits absolviert, da sagte Martha eines Tages: „Jetzt will ich Euch die Geschichte eines deutschen Mannes erzählen, dessen Name zwar nicht in den Geschichtsbüchern stehen wird, der aber ein guter Deutscher war. Ich spreche von Eurem Großvater. Er war Jude.“
Als ich das hörte, wurden meine Knie weich und ich glaubte, die Erde müsse sich vor mir auftun. Aber Martha rückte das Bild sofort zurecht. Was mein Großvater von den Juden hielt, habe er ja damit gezeigt, daß er aus ihrer Gemeinschaft ausgetreten sei. Er habe nichts mit dem internationalen Gesindel von Juden und Freimaurern zu tun haben wollen. Er habe nichts anderes als ein guter Deutscher sein wollen und habe jedes nur erdenkliche Opfer für sein deutsches Vaterland gebracht. Mit dieser Vorstellung konnte ich gut leben - bis 1933.
Zunächst einmal änderte sich für mich nicht viel. Was nach Hitlers Machtübernahme - dem 30. Januar - stattfand, nannten sie damals „die nationale Erhebung“. Sie bestand darin, daß sich plötzlich alle sehr national gebärdeten, auch solche, von denen man ganz genau wußte, daß sie vorher in ganz anderen politischen Lagern beheimatet gewesen waren. Die ganze Nation war von einem großen Jubel erfaßt - so wenigstens schien es mir. Ständig gab es Gelegenheiten für Fackelzüge und zum Flaggen, wobei neben den Hakenkreuzfahnen auch schwarz-weiss-rot erlaubt war. Wir waren überglücklich, endlich wieder schwarz-weiss-rot! Für uns hatte es sowieso nie etwas anderes gegeben. Schwarz-rot-gold verschwand über Nacht aus dem Straßenbild.
Auf den freien Plätzen waren Lautsprecher aufgestellt und man konnte dort die Hitlerreden hören, denn nur wenige „Volksgenossen“ besaßen damals schon ein Radio. Der „Führer“ hatte uns fast jeden Tag etwas mitzuteilen, und fast immer redete er davon, daß die „nationale Ehre“ wiederhergestellt werden sollte. Oh, das ging uns runter wie Öl! Hatten wir doch den verlorenen Krieg (1914-1918) und den Versailler Friedensvertrag stets als große nationale Schande empfunden.
Eines Tages, ich kam mit meiner Mutter aus der Stadt vom Einkaufen, da kam die SA mit ruhig-festem Schritt dahermarschiert. Sie wurden zu Dankgottesdiensten in die verschiedenen Kirchen geführt. Für Euch Junge ist das wohl kaum noch nachvollziehbar. Die ganze Nation trat geschlossen vor Gott, den man damals aber in „Vorsehung“ umbenannt hatte, da die meisten sowieso nicht mehr an ihn glaubten. Vor diesen Gott also traten nun die Deutschen und dankten ihm dafür, daß er ihnen einen so großartigen Führer geschickt hatte, der sie aus ihrer nationalen Erniedrigung herausführen würde, in die sie durch den verlorenen Krieg geraten waren.
Feuchten Auges sah meine Mutter ihnen nach und sagte:
„Wenn das der Vater und der Großvater noch erlebt hätten.“ (Mein Vater war 1932 bereits gestorben.) Auf meine Frage „Was denn, Mutter?“, sagte sie: „Daß wir endlich wieder eine nationale Regierung haben.“
So bescheuert waren wir damals. Vor lauter nationaler Begeisterung wollten wir den Antisemitismus einfach nicht wahrnehmen. Dabei hätten wir ihn durchaus sehen können, hätten wir nur die Augen aufgemacht. Es gab Verhaftungswellen, plötzlich verschwanden angesehene Bürger über Nacht, und die meisten von ihnen waren Juden. Vor den jüdischen Geschäften standen SA-Männer Wache. Sie sagten zwar nichts und ließen einen reingehen, wenn man wollte. Aber die meisten Leute waren bereits so verschüchtert, daß sie sich ganz einfach nicht getrauten. Andere SA-Männer trugen Transparente durch die Straßen: „Kauft nicht bei Juden“ oder „Die Juden sind unser Unglück“ und ähnlicher Quatsch. Aber darauf, daß auch wir einmal Betroffene sein könnten, kamen wir immer noch nicht. Wir waren ja keine Juden!
Wenn ich heute an mein Verhalten von damals denke, so kann ich weiter nichts tun, als mich schämen. Wie konnte ich nur so teilnahmslos sein! Und wie konnte ich nur so dumm sein, zu glauben, es ginge mich nichts an! Indem ich Hitler zujubelte, habe ich mich mitschuldig gemacht daran, daß meine Großmutter später ermordet wurde, und in diesem Sinne ist jeder Deutsche meiner Generation schuldig an den Judenmorden, es sei denn, er habe bewußten Widerstand geleistet. Doch zurück zur Sache!
Zum ersten Mal ging es nicht nach meinem Kopf, als ich die Aufnahme in den BDM (Bund Deutscher Mädel) beantragte. Als Halbjüdin wurde ich nämlich zurückgewiesen. Ich war empört. Ich, die so gut deutsch war, wurde nicht aufgenommen, während andere stolz die BDM-Uniform trugen, von denen ich genau wußte, daß sie vor 1933 bei den „Linken“ gewesen waren, oder - noch schlimmer! - Väter hatten, die während der Besatzungszeit mit den Franzosen kollaboriert hatten, also in meinen Augen „Vaterlandsverräter“ waren.
Außer, daß ich nicht zum BDM konnte, auch nicht in den Arbeitsdienst, und zu keinem Studium zugelassen wurde, lebte ich aber ziemlich normal bis etwa 1938. Meine Schulkameradinnen veränderten ihr Verhalten mir gegenüber in keiner Weise. Ich ging auch in die Tanzstunde und ich könnte nicht behaupten, daß sich irgendeiner von unseren „Tanzstundenherren“ mir gegenüber distanziert verhalten hätte. Wir waren nun mal ganz einfach keine Juden, auch in den Augen unserer Mitbürger nicht. Die „richtigen“ Juden wurden sehr wohl in der Schule ausgegrenzt und zu meiner Schande muß ich gestehen, daß es mir sehr bald schon peinlich war, wenn meine jüdische Freundin mich auf der Straße ansprach. Sie lebt heute in Canada und hat mir meine Feigheit von damals verziehen, hat mich ein paar mal besucht und ich sie auch.
Ab 1935 fingen Freunde meiner Mutter, auch einige Verwandte meines Vaters, an, sich von uns zurückzuziehen. Sie befürchteten berufliche Schwierigkeiten, wenn sie weiter mit uns verkehrt hätten. Wahrscheinlich hätten sie die auch gehabt. Das war eine sehr schmerzliche Erfahrung. Es gibt ein Sprichwort: „Freunde in der Not gehen alle auf ein Lot.“ Wie wahr das ist, haben wir in den Jahren 1933 - 1945 erfahren. 1945 allerdings, als es vorteilhaft war, Leute wie uns zu kennen, kamen sie plötzlich alle wieder zum Vorschein. Dennoch gab es auch gute und wirklich treue und zuverlässige Freunde. Wenn wir sie nicht gehabt hätten, hätte meine Mutter den Hitlerterror nicht überlebt.
Die erste wirklich feindliche Maßnahme des Hitlerstaates gegen meine Familie war die Einleitung der Zwangsarisierung unserer Firma. Die Eisengießerei Hans Lindeck war eine Gründung meines jüdischen Großvaters gewesen, und dessen Lebenswerk. Nach seinem Tod übernahm mein Vater die Leitung. Er hatte aber keine glückliche Hand und so kam es dazu, daß ein Konkursverfahren drohte. Da beging mein Vater Selbstmord und rettete damit die Fabrik für seine Frau und seine Kinder, denn er hatte eine hohe Lebensversicherung und damit konnte die Firma saniert werden. „Die Fabrik", das war für uns viel mehr als eine Sache, die dem Gelderwerb diente. Sie war eine Idee, und wir hatten Opfer für sie gebracht. Nun bekam meine Mutter die Bilder meines Vaters und meines Großvaters zugestellt, die bis dahin im Chefbüro gehangen hatten, und es wurde ihr verboten, die Firma zu betreten. Ein Treuhänder wurde zur Abwicklung eingesetzt. Meine Mutter und meine Großmutter, die bis dahin die Firmeninhaberinnen gewesen waren, hatten keinen Einfluß mehr auf den Gang der Dinge. In dieser Situation lernte ich meinen Mann, Deinen Großvater Quetting, kennen. Das war im Sommer 1938.
Über Deinen Großvater Quetting ist etwas sehr bemerkenswertes zu sagen: Er war ein Mensch! Das waren nämlich damals nicht viele. Warum er sich in mich verliebt hat, weiß ich nicht, denn ich war weder besonders schön, noch besonders geistreich, und eine gute Partie war ich erst recht nicht. Ich war im Gegenteil zu diesem Zeitpunkt bettelarm. Trotz alledem muß mich Dein Großvater sehr geliebt haben, denn er hat zunächst einmal nur Nachteile von seiner Verbindung mit mir gehabt. Heiraten konnten wir nicht, Ehen zwischen Ariern und Nichtariern waren nicht erlaubt. Ich war vollkommen rechtlos, und doch hat er mir in keinem Augenblick auch nur den geringsten Anlaß gegeben, an seiner Treue und Zuverlässigkeit zu zweifeln. Ich sage deshalb „er war ein Mensch“, weil er ganz einfach zu seiner Liebe stand und sich darin von der herrschenden Ideologie nicht beirren, auch von keiner Drohung einschüchtern ließ.
Als erstes war nun unser Plan, den Arier Rudolf Quetting einzuschalten. Er sollte die Firma arisieren, indem er sie einfach zum Schein übernahm. Aber wir hatten die Rechnung ohne die Nazis gemacht. Die kamen uns sehr bald auf die Schliche, denn der Nazistaat war ein Schnüfflerstaat, der seine Bürger auf Schritt und Tritt überwachte. Dieser Plan klappte also nicht. Die Firma ging in andere Hände über. Das gesamte Vermögen meiner Mutter kam auf ein Sperrkonto und sie durfte nur über einen sehr begrenzten Betrag verfügen. 150,- Mark im Monat durfte sie abheben, was darüber hinausging, brauchte eine Extragenehmigung und die war nur schwer zu bekommen.
Inzwischen kam der 9. November 1938 heran, der als „Reichskristallnacht“ in die Geschichte einging.
Am 9. November 1923 hatte Hitler geputscht und dieser Putsch war blutig niedergeschlagen worden. Nun war das also ein Nationalfeiertag und wurde mit großem Pomp und Aufmärschen gefeiert. Die nationale Begeisterung kam dabei auf den Siedepunkt.
Als wir am Morgen des 10. November auf die Straße kamen, bot sich uns ein wüstes Bild. Die Straßen lagen voller Glasscherben (daher der Name Reichskristallnacht). Sämtliche jüdischen Geschäfte waren zerstört und geplündert worden und in ganz Deutschland brannten die Synagogen. Was im einzelnen die politischen Hintergründe zu diesem Pogrom waren, will ich nicht schildern. Es gibt genügend Literatur darüber. Ich hielt mich zu dieser Zeit in München auf, weil ich dort eine Ausbildung machte. Dein Großvater arbeitete bei Siemens in München. In München war es auch, wo wir uns kennengelernt hatten.
Das Wüten des Mobs ging auch am hellichten Tage weiter, und wenn ich „Mob" sage, so war das keineswegs nur das, was man gemeinhin unter „Pöbel“ versteht, sondern es waren Leute darunter, die sich durchaus als „anständige“ Bürger verstanden und dem „gehobenen“ Mittelstand angehörten. Später, als ich in Traben-Trarbach wohnte, wurden mir Namen von angesehenen Bürgern genannt, die an diesem Tag mit Äxten in der Hand und „Juda verrecke“ schreiend auf der Straße gesehen worden waren. Jetzt blieb es nicht nur bei den Geschäften, sie drangen auch in die Privatwohnungen der Juden ein, und unter dem Vorwand, sie müßten Haussuchung halten, wurde alles kurz und klein geschlagen. Es soll auch Juden gegeben haben, die immer noch an einen deutschen Rechtsstaat glaubten und sich schützend vor ihr Eigentum stellten. Sie sind totgetrampelt worden. Die Polizei stand dabei und rührte sich nicht. Das ganze Volk stand dabei, schaute zu, und keiner schrie auf vor Empörung. An diesem Tag hat das deutsche Volk seinen Anspruch darauf verloren, eine Kulturnation genannt zu werden.
Auch bei meiner Mutter, Kaiserslautern, Mainzerstr. 40, rückte ein SA-Trupp an, um „Haussuchung" zu halten. Als erstes warfen sie die Bücherschränke um, und in der Tat war da einiges an Verbotenem drin: Thomas Mann, Heinrich Heine, Stefan Zweig, um nur einige Schriftsteller zu nennen, die zu jener Zeit verboten waren. Kurzum, es gab ein fürchterliches Gescheppere, und von diesem Lärm angelockt, kam Jetta Krabler von nebenan gelaufen, mit der meine Mutter gut befreundet war. Sie schrie: „Was ist hier los?“, worauf der befehlshabende SA-Mann sagte: „Das geht Sie gar nichts an! Machen Sie, daß Sie weiterkommen!“ Darauf Jetta: „Als Deutsche geht mich das sehr wohl was an. Ich möchte nämlich wissen, wie der Dank des Vaterlandes aussieht, den Sie doch so oft im Munde führen. Diese Frau ist uns allen als gute Patriotin bekannt. Während des Krieges hat sie dem Vaterland als Rote-Kreuz-Schwester im Lazarett gedient, und ihr Mann war Frontoffizier.“ Tatsächlich wurde die „Haussuchung“ abgebrochen und außer den Glastüren des Bücherschrankes war dabei nichts weiter kaputtgegangen. Das hatten wir ganz allein Jettas mutigem Einschreiten zu verdanken.
Ich mußte diese Geschichte erzählen, weil sie zeigt, daß nicht alle Deutschen feige Schweine gewesen sind. Auch widerlegt sie diejenigen, die immer behaupten, man habe ja doch nichts machen können. Man hat sogar sehr viel machen können, und vielen Menschen wurde das Leben gerettet, weil eben nicht alle Deutschen tatenlos zusehen wollten, wie Unrecht geschah. Hat man diesen Helden Denkmäler gesetzt, wie sie es verdient hätten? Oh nein! Die Denkmäler haben die bekommen, die auf den Schlachtfeldern diesen Hitler-Unrechtsstaat auch noch verteidigt haben.
Aber zurück zum 10. November 1938! An diesem Tag hat man uns zu heimatlosen Flüchtlingen gemacht. Alle Juden wurden aus der Pfalz ausgewiesen, und folgendes war die Begründung: Zu jener Zeit wurde gerade der „Westwall“ gebaut, als Verteidigungslinie gegen Frankreich. Außerdem würde die Pfalz im Falle eines Krieges Aufmarschgebiet sein. Man durfte also den Juden keine Gelegenheit zu Spionage oder Sabotage geben! Am Abend meldete „unser“ Gauleiter Bürkel:
„Mein Führer, ich melde einen judenfreien Gau!"
Meine Mutter und meine Großmutter hatten nur ca. 2 - 3 Stunden Zeit, um ihre Sachen zu packen, zum Bahnhof zu rennen, und dort den ersten Zug zu nehmen, der sie ins „Rechtsrheinische“ brachte. Meine Großmutter Rosa Lindeck, geb. Wolf, die bis dahin mit uns in einem Haushalt gelebt hatte, fuhr zu ihrer Schwester, Frieda Reinstein, nach Würzburg. Meine Mutter kam mit meinem „kleinen Schwesterchen“ Marianne (sie war 12 Jahr alt) nach München. Sie hatten lediglich eine Reisetasche mit ihrem Waschzeug und etwas Wäsche bei sich. - Was nun?
Dein Großvater, Rudolf Quetting, nahm mich in die Arme und sagte: „Jetzt bringe ich Dich erstmal zu meinen Eltern.“ Auch meine Mutter sollte mit Marianne und meinem Bruder Günther nach Berlin kommen, und sich dort eine Wohnung suchen. Als wir nach Frohnau kamen, wo Quettings, Deine Urgroßeltern, wohnten, kam mir meine spätere Schwiegermutter mit weit geöffneten Armen bis in den Garten entgegen und Schwiegervater hieß mich an der Haustür willkommen. Das war damals keine Selbstverständlichkeit. Zu einer Zeit, in der das deutsche Volk in seiner Gesamtheit jegliche menschliche Orientierung verloren hatte, waren Quettings ganz einfach Menschen geblieben. In ihrem Haus habe ich Geborgenheit gefunden, und nie haben sie mich fühlen lassen, daß ich bettelarm und als Flüchtling zu ihnen gekommen bin, und daß ich ja recht eigentlich vollkommen abhängig von ihnen war. Für sie war ich ganz einfach die Schwiegertochter, die ihnen sehr bald schon Enkelkinder schenken sollte. Am 1. August 1939 kam meine älteste Tochter Gertrud Elisabeth , gerufen Gerti, zur Welt. Einen Monat später war Krieg. Als am 7. August 1940 Brigitte geboren wurde, starb am selben Tag mein Schwiegervater. Und dann kam am 21. November 1941 noch Renate dazu. Ein weiteres Mitglied in unserem Haushalt war Mimei, eine unverheiratete Schwester meiner Schwiegermutter, welch letztere nun von uns allen "Omigerufen wurde. Wir waren eine glückliche Familie. Zwar mußte unser Papa Soldat spielen, aber das war ja ein Schicksal, das wir mit allen anderen Deutschen teilten und wir beklagten uns nicht. Auch kam er zunächst mal nicht an die Front.
Dann kam der Tag, an dem die Juden den Stern tragen mußten. Das genaue Datum weiß ich nicht mehr. Es muß wohl 1942 gewesen sein. Meine Mutter brauchte übrigens den Stern nicht zu tragen. Sie mußte lediglich, wie alle jüdischen Frauen, zusätzlich zu ihrem Vornahmen den Namen Sarah führen, hieß also damals offiziell „Anna Sarah Ackermann“. Die Männer bekamen den Zusatznamen „Israel“. Wehe, man hätte das beim Leisten einer Unterschrift unterschlagen!
Da mein Vater Arier und Frontkämpfer gewesen war, da außerdem wir Kinder christlich erzogen waren, galt die Ehe meiner Eltern als eine sogenannte „privilegierte Mischehe“, und dies, obgleich mein Vater ja gar nicht mehr lebte. Meine Mutter genoß also eine Menge Privilegien. Sie brauchte den Stern nicht zu tragen und sie bekam ganz normale Lebensmittel- und Kleiderkarten. Bei den Juden war nämlich ein „J“ auf den Lebensmittelkarten aufgedruckt. Sie bekamen sehr viel kleinere Zuteilungen als wir. Kleiderkarten bekamen sie überhaupt keine.
Als nun die Judensterne im Straßenbild auftauchten - es war streng verboten, sie zu verdecken, etwa mit der Handtasche - sagte meine Mutter: „Jetzt haben sie ihr Schlachtvieh schon gezeichnet!“ Endlich fingen wir an zu begreifen, daß wir in einem Verbrecherstaat lebten, und daß die Katastrophe auch unsere Familie treffen würde. Die Erste, die wegmußte, war meine Großmutter Rosa Lindeck, geb. Wolf. Sie wurde nach Theresienstadt deportiert, zusammen mit ihrer Schwester Frieda Reinstein - unsere Tante Frieda - und Tante Friedas Nichte, Anna Reinstein. Diese Anna Reinstein hatten meine Schwester Marianne und ich sehr bewundert. In guten Zeiten war sie eine äußerst elegante Erscheinung gewesen, und sie hatte viele arische Verehrer gehabt.
Als meine Großmutter uns schrieb, daß die Deportation nahe bevorstehe, fuhren meine Mutter und ich nach Würzburg, um Abschied zu nehmen. Es war grausig. Schon vorher hatte Tante Frieda ihre Wohnung aufgeben müssen, und nun waren die beiden alten Frauen in einer Art Sammellager untergebracht, das man in einem ehemals eleganten jüdischen Altersheim eingerichtet hatte. Es war natürlich hoffnungslos überfüllt. Die Leute waren alle am packen. Sie hatte Listen bekommen, worauf genau die Gegenstände verzeichnet waren, die sie mitnehmen durften. Es war wenig genug, außerdem war das Gewicht begrenzt. Da saßen sie nun vor ihren geöffneten Koffern und probierten aus: „Vielleicht ist dies hier praktischer - ach nein, vielleicht das!“ Das Einpacken und wieder Auspacken nahm überhaupt kein Ende. Eine einzige Garnitur Bettwäsche durfte jeder mitnehmen. Sie hatten sie alle dunkelblau gefärbt. „Daß man den Dreck nicht so sieht“, sagten sie mit einem traurigen Lächeln. Laut gejammert hat keiner. Ich habe diese Menschen für ihre heldenhafte Ruhe sehr bewundert. Meine Großmutter erzählte uns, wie der Abtransport planmäßig vor sich gehen sollte. Am Abend mußten sie zum Abmarsch bereit sein. Dann sollten sie in einen Park geführt werden, wo sie bis zum Morgen bleiben sollten. Es war Herbst und die Nächte schon sehr kalt. Gegen Morgen sollten sie dann verladen werden zum Abtransport. In Güterwagen ohne Sitzgelegenheiten, ohne Toilettenanlagen, ohne Heizmöglichkeiten, eng zusammengepfercht Männlein wie Weiblein, so waren die alten Leutchen tagelang - vielleicht sogar wochenlang- unterwegs nach Theresienstadt. Viele haben dieses Ziel gar nicht lebend erreicht. Zurückgekommen ist niemand. Aber meine Mutter erhielt eines Tages einen Brief von einer Würzburger Bekannten. Amerikanische Verwandte hatten sie für 20.000.-- US Dollar (Devisen!) freigekauft. Auch sowas gab es! Sie schrieb, daß meine Großmutter in ihrem Beisein gestorben sei. In Theresienstadt wurden die Leute nicht vergast - man hat sie einfach verhungern lassen.
Unsere Berliner Verwandten haben alle rechtzeitig nach USA auswandern können - bis auf Tante Alice, die war wohl zu arm. Sie war mit dem Bruder meiner Großmutter, Richard Wolf, verheiratet gewesen. Der war aber früh gestorben und so hatte sie ein zweites Mal geheiratet. Dieser zweite Mann wurde von der Familie nicht anerkannt. Man erzählte sich, er habe das Vermögen von Tante Alice durchgebracht, das ursprünglich nicht unbeträchtlich gewesen sein soll. Wir nannten ihn nur „den Lader“, das war sein Familienname. Tatsache ist, daß sie in recht ärmlichen Verhältnissen lebten. Tatsache ist auch, daß für die Reichen das Auswandern leichter war, als für die Armen. Ich weiß zwar nicht wieso, denn niemand durfte mehr als 10.-- Reichsmark mitnehmen, aber die Reichen hatten wahrscheinlich bessere Verbindungen im Ausland, auch waren sie in der Lage, den Nazis Schmiergelder zu zahlen. Tante Alice jedenfalls und ihr Lader konnten nicht mehr raus und wurden deportiert. Wohin, das bekam man nicht mitgeteilt. Auch eine Todesnachricht bekam man nicht. Tante Alices Sohn aus erster Ehe, Helmuth Wolf, konnte mit seiner Frau Ruth untertauchen. Sie hatten keine feste Bleibe. Manchmal kamen sie zu meiner Mutter zum Übernachten. Auch eine Cousine von Ruth, Margot, hatte bei meiner Mutter Unterschlupf gesucht und gefunden. Leider wurde sie erwischt. Eines Tages war sie spurlos verschwunden. Helmuth und Ruth hingegen haben den Krieg in Berlin überlebt und sind 1945 nach New York ausgewandert.
Ich glaube nicht, daß Du Dir vorstellen kannst, wie schwer das damals war, in der Illegalität zu überleben, und dann noch in Berlin! Es gab doch dauernd Bombenangriffe und zum Schluß war Berlin nur noch ein Trümmerfeld. Während der Angriffe mußten die Wohnungen offen gelassen werden und ständig ging eine Luftschutzwache durch, um zu sehen, ob es brennt. Im Keller Zuflucht suchen, konnte man auch nicht, denn da hätte man von Bekannten gesehen und verraten werden können. Die GESTAPO war überall gegenwärtig und unter den Spitzeln gab es auch Juden! Sie sicherten sich damit ihr Überleben, denn wenn sie für die GESTAPO arbeiteten, wurden sie nicht deportiert. Eine von ihnen hieß Stella. Wir nehmen an, daß sie es war, die Margot verraten hat.
Dein Vater hat mich gebeten, alle Ermordeten unserer Familie aufzulisten. Ich kann das nicht. Es sind zu Viele und ohnehin ist dieser Brief schon viel zu lang geraten. Laß' also hier die Erwähnten stellvertretend für alle anderen stehen. Ich kann aber dieses Kapitel nicht zu Ende bringen, ohne an Tante Liesel zu denken und ihre drei Buben. Sie waren nicht mit uns verwandt. Tante Liesel war eine Schulfreundin meiner Mutter und hatte nach München geheiratet, einen Justizrat Dr. Gern. Wir waren mit der ganzen Familie Gern eng befreundet. In den Schulferien kamen die 3 Buben manchmal mit, manchmal ohne ihre Mutter, zu ihrer Großmutter nach Kaiserslautern. Das war für mich eine wunderbare Zeit. Wir waren fast immer zusammen, gingen schwimmen, Radfahren, spielten Indianer. Es war eine so fröhliche Familie! Tante Liesel brachte uns auch einiges bei, was als Weihnachtsgeschenke für die Eltern Verwendung fand. Einmal malten wir auf Holz, einmal auf Stoff, einmal machten wir Lampenschirme aus Pergamentpapier. Es war immer etwas Sinnvolles. Und auch die Buben mußten sticken und stricken. Tante Liesel war in dieser Beziehung sehr modern. Es gab keine Sonderrechte für Männer.
Ich mußte von Tante Liesel und ihren Buben erzählen, weil es ein Unterschied ist, ob man von 6 Millionen Ermordeten spricht, oder ob man dabei an Menschen denkt mit menschlichen Gesichtern. Diese ganze fröhliche und ach so lebendige Familie Gern ist ausgelöscht, als hätte es sie nie gegeben. Übriggeblieben ist lediglich der älteste Sohn ErnstEr war zum Studium in der Schweiz. Als man aus Deutschland kein Geld mehr schicken konnte, behielten ihn seine Wirtsleute kostenlos in Kost und Logis, und ermöglichten ihm so, sein Studium zu Ende zu bringen. Er lebte in Zürich und ich habe ihn dort besucht. Als wir noch Kinder waren, ist er mein erster Verehrer gewesen.
Die Berliner Verwandten, die auswandern konnten, waren vornehmlich Tante Johanna Levy und Tante Malchen Zirker mit ihren Familien.
Tante Johanna war mit einem Bruder meines Großvaters verheiratet gewesen. Ihr Mann, unser Onkel Gustav, war bereits tot. Sie hatten 4 Kinder gehabt: Tante Anni und Tante Maria, Ernst und Franz. Franz war im ersten Weltkrieg gefallen. Er hätte keinen Kriegsdienst zu leisten brauchen, war in Amerika, als der Krieg ausbrach. Aber er war eben ein Patriot, kam auf abenteuerlichen Wegen nach Hause, um für sein Vaterland zu kämpfen. Das Vaterland hat es ihm nicht gedankt!
Guten Kontakt habe ich immer noch zu Tante Marias Tochter Marianne. Sie lebt in San Francisco.
Tante Malchen war die Lieblingsschwester meines Großvaters. Von ihrem Mann weiß ich gar nichts, er wurde in der Familie nie erwähnt. Ihre Kinder waren Milly, Hans, Georg und Otto. Otto Zirker ist als junger Mensch freiwillig aus dem Leben geschieden. Georg war in erster Ehe mit einer Arierin verheiratet gewesen und geschieden. Der Sohn aus dieser Ehe, Halbarier wie ich, ist nicht ausgewandert. Er heißt Herbert Zirker und war Professor an der Universität Trier. Durch ihn habe ich viel über Milly Zirker erfahren. Gestorben ist sie in Mexiko.
Milly Zirker war nun wirklich eine Wucht! Jede Familie könnte stolz darauf sein, eine Frau von ihrer Bedeutung zu den ihren zu zählen. Dabei habe ich sie als Kind nie leiden mögen, weil sie den Kommunisten nahestand. Sie war eine enge Mitarbeiterin von Carl von Ossietzky, der in Berlin die linke Zeitung "Die Weltbühne" herausgegeben hat. Dein Vater hat die Gesamtausgabe der "Weltbühne" als Buchreihe. Wir haben darin viele Artikel von Milly Zirker gefunden. Außer unter ihrem richtigen Namen hat sie aber auch noch unter dem Pseudonym „Johannes Bückler“ geschrieben. Als Hitler an die Macht kam, ist sie nach Frankreich geflohen.
Herbert Zirker hat eine Menge Informationen über Carl von Ossietzky und seinen Freundeskreis, zu dem auch Milly gehörte. Die meisten waren im Ausland und haben versucht, ihm von dort aus zu helfen. Er selbst hat sich geweigert ins Ausland zu gehen und ist im KZ umgekommen. Bereits im KZ, wurde ihm noch der Friedensnobelpreis verliehen, den er allerdings nicht in Empfang nehmen durfte. Auch in diesem Zusammenhang wird Milly Zirker zusammen mit ihrem Bruder Hans des öfteren erwähnt. Immer wieder sind sie mit Persönlichkeiten von internationalem Rang in Verbindung getreten und haben auf Carl von Ossietzky aufmerksam gemacht, bis dieser dann schließlich den Friedensnobelpreis bekam. Der Freundeskreis hatte wohl gehofft, daß Carl von Ossietzky als Nobelpreisträger aus dem KZ frei käme. Er war übrigens kein Jude, sondern soll aus einer katholischen Kleinbürgerfamilie gestammt haben.
Mehr will ich über die Berliner Verwandten nicht schreiben. Es war ein recht großer Kreis, der da ausgewandert ist, und es würde zu weit führen, wollte man die Lebensschicksale jedes einzelnen schildern. Die Kinder von Tante Johanna waren alle verheiratet. Es waren also auch noch Schwiegerkinder und Enkel da. Soweit sie Levy hießen, haben sie in Amerika den Namen Lindeck angenommen.
Zuletzt wurden auch die Juden deportiert, die in privilegierten Mischehen gelebt hatten. Meine Mutter war einige Zeit vorher gezwungen worden, in einer chemischen Reinigung zu arbeiten, offiziell hieß das „Dienstverpflichtung“. Eigentlich hatte sie dabei noch Glück gehabt, denn meistens waren die Arbeiten der Dienstverpflichteten sehr viel unangenehmerer Art (Straßenkehren, Aufräumen nach Bombenangriffen, usw.). Meine Mutter also kam eines Tages von der Arbeit nach Hause, da gewahrte sie die Hausmeistersfrau, die am Hauseingang stand und ihr durch Zeichen zu verstehen gab, sie möge sich schleunigst wieder entfernen. Die GESTAPO (Geheime-Staats-Polizei) war in der Wohnung, um sie abzuholen. Nun wohnte ein Bruder meines Vaters, Onkel Helmuth, in Rehfelde bei Strausberg, nicht weit von Berlin. Er hatte meiner Mutter eine Zuflucht angeboten, falls sie einmal in Not sei, und zu ihm fuhr sie jetzt. Meine Schwester Marianne und ich packten einen Koffer für sie, nachdem die GESTAPO gegangen war, und wir wieder in die Wohnung konnten. Am nächsten Tag brachte Marianne den Koffer meiner Mutter nach Rehfelde. Als sie zurückkehrte, war die GESTAPO schon wieder in der Wohnung. Sie wollten wissen, wo meine Mutter sei. Sie wollten ferner über einen Brief Auskunft haben, der an jenem Tag mit der Post gekommen war. Der Brief stammte von einer jüdischen Freundin meiner Mutter, die untergetaucht war. Wir waren aber sehr vorsichtig zu jener Zeit mit unseren Briefen. Weder gaben wir einen Absender an, noch benutzten wir irgendwelche Eigennamen. Die Freundin schrieb lediglich: „Ich brauche dringend eine Flitze.“ So nannten wir das damals, wenn einer untertauchen wollte. Natürlich glaubte die GESTAPO, der Brief sei von meiner Mutter. Aber wie auch immer - sie wollten wissen woher er kam. Marianne sagte, sie wisse es nicht, und so nahmen sie sie mit, um ein Geständnis zu erpressen. Eine Freundin von Marianne verständigte mich per Telefon und ich fuhr sofort nach Rehfelde, um meine Mutter von Onkel Helmuth weg zu einer anderen Bleibe zu bringen. Sie hatte in der chemischen Reinigung, in der sie arbeitete, eine Vorarbeiterin, die ihr kurz zuvor ihren Wohnungsschlüssel in die Schürzentasche geschoben hatte, mit den Worten: „Sie können jederzeit zu mir kommen, bei Tage und bei Nacht.“ Zu ihr gingen wir jetzt. Das war aber auch kein sicherer Zufluchtsort. Marianne wußte von dieser Vorarbeiterin. Unter starkem Druck würde Marianne möglicherweise deren Namen angeben, um die Aufmerksamkeit der GESTAPO auf eine, ihrer Meinung nach, falsche Spur zu lenken. Marianne war noch ein halbes Kind, und daß bei der GESTAPO gefoltert wurde, wußten wir. Würde sie standhalten? Also brachte uns die Vorarbeiterin zu ihrer Schwester, die in einer Laubenkolonie wohnte. Sie gab meine Mutter als eine Kollegin aus, die beim letzten Bombenangriff ihre Wohnung verloren habe. Auf keinen Fall dürfe die Schwester die Wahrheit erfahren, sie könne für deren Zuverlässigkeit nicht garantieren, meinte unsere Freundin.
Ich habe diese Fluchtgeschichte so ausführlich erzählt, weil sie zeigt, wie weit das politische Spektrum gespannt war, dem unsere Helfer angehörten. Die Hausmeisterleute waren Kommunisten, und als solche hatten sie noch nicht einmal unsere Sympathie gehabt. Die Vorarbeiterin hatte einen Sohn beim „Stahlhelm" gehabt, das war keine politische Partei, aber er stand den Deutschnationalen sehr nahe. Dieser Sohn war von SA-Leuten ermordet worden, als er aus einer Versammlung kam. Die politische Heimat von Onkel Helmuth wird wohl in der Mitte gewesen sein. Die Menschen, die uns geholfen haben, stammten also aus den verschiedensten Lagern - von ganz links bis ganz rechts. Was sie aber alle gemeinsam hatten, war ihr gutes Herz, und ihr absolutes Unvermögen, Unrecht schweigend geschehen zu lassen.
Inzwischen hatte mein Bruder Günther die Aufgabe übernommen, für unsere Mutter eine Bleibe auf Dauer zu suchen. Wir fanden sie schließlich bei der Familie Fritz Mayer in Rüssingen. Was diese Familie für meine Mutter, Deine Urgroßmutter, getan hat, ist so großartig, daß ich es nicht in Worte fassen kann. Vater, Mutter, und vier Kinder, samt Oma und Opa, haben sie ihr Leben gewagt für eine Frau, die doch im Grunde eine Fremde für sie war. Meine Mutter blieb dort bis zum Kriegsende.
Meine Schwester Marianne war übrigens nach 14 Tagen aus der GESTAPO-Haft entlassen worden. Sie war standhaft geblieben und hat niemanden verraten. Aber sie hatte Fürchterliches erlebt. Man hatte sie nicht in einem normalen Gefängnis untergebracht, sondern in einem Sammellager, von wo aus auch Abtransporte in die Konzentrationslager stattfanden. Als sie mir davon erzählte, kam mir zum ersten Mal der Gedanke, daß man eigentlich aktiven Widerstand leisten müsse. Wie aber? In einer Situation, in der Jeder Jedem mißtraut, ist es nicht mehr möglich, Kontakte zu Gleichgesinnten zu finden. Das hätte sehr viel früher geschehen müssen.
1945 brach die ganze tausendjährige Herrlichkeit des „Dritten Reiches“ zusammen. Dein Großvater und ich konnten heiraten und ich dachte, nun könne ich wieder ein normales Leben führen, als Deutsche unter Deutschen. Das aber war falsch gedacht. Zu tief waren die Wunden, als daß sie je vernarben konnten.
Die meisten Deutschen haben die Jahre zwischen 1933-1945 als ganz normale Zeit erlebt. Sie sind nie bereit gewesen, sich mit dem Faschismus und mit ihrem eigenen Versagen auseinanderzusetzen. Sie sind nicht bereit, ihre Schuld anzuerkennen, die darin besteht, daß sie zu all dem geschwiegen haben. Gewiß sind sie nicht alle blutige KZ-Mörder gewesen. Aber wie kann ich das wissen? - Nur ganz wenige Fälle sind aufgeklärt worden. Die meisten wurden unter den Teppich gekehrt und man darf nicht daran rühren. So kann also jeder Deutsche meiner Generation der Mörder meiner Großmutter gewesen sein. Wie kann ich das wissen? - Sofern sie nicht gestorben sind, leben die Mörder noch immer unter uns und meist sogar in sehr guten Positionen und als geachtete Bürger. Von den Opfern hingegen erwartet man, daß sie sich auch noch entschuldigen für all das Leid, das man ihnen angetan hat. Der allgemeine politische Trend geht wieder sehr nach rechts - und sie merken es noch nicht einmal. Ich aber habe erkannt, daß meine Feinde nicht links sitzen, sondern rechts, und so hat sich mein politischer Standpunkt sehr nach links verschoben.
Und noch eins habe ich gelernt aus meinen Erfahrungen im „Dritten Reich“, nämlich, daß wichtiger als alle Ideologien die Tatsache ist, daß man immer und in jeder Situation ein Mensch bleibt. Mayers in Rüssingen sind mein strahlendes Vorbild. Sie sind weiter nichts als arme Kleinbauern gewesen und unbeschwert von jeder Bildung. Wie überlegen kamen wir uns ihnen gegenüber vor, bloß weil wir ein bißchen Englisch und Französisch konnten, und Bücher gelesen hatten! Und wie haben sie uns beschämt mit ihrer einfachen Menschlichkeit. Ich habe viel darüber nachgedacht, wie ich ihnen danken könnte. Es gibt nur eine Möglichkeit des Dankes, nämlich so zu handeln wie sie, wenn die Gelegenheit es erfordert.
Ich will aber nicht mit moralischen Ermahnungen schließen. Wie ich eingangs schon erwähnte, will ich mit meinen Ausführungen nicht richtungsweisend sein. Du wirst ganz allein deine moralischen Maßstäbe festlegen, und Dir Deinen Weg selber suchen müssen.
Ich wünsche Dir, mein liebes Enkelkind, das meinen Namen trägt, daß Du das große Glück eines erfüllten Lebens finden mögest.
gez. Deine Oma Nora
Irene Quetting, geb. Ackermann
Geschrieben im Sommer 1992, als ich 74 Jahre alt war, und im Ida-Becker-Heim in Traben-Trarbach wohnte.
Anmerkungen:
Irene Quetting sen. wurde von Katrin und Irene Quetting „Oma Nora“ genannt, da sie einen Hund mit dem Namen Nora hatte.
In dem Brief von Irene Quetting an ihr Enkelkind heißt es:
„Aber zurück zum 10. November 1938! An diesem Tag hat man uns zu heimatlosen Flüchtlingen gemacht. Alle Juden wurden aus der Pfalz ausgewiesen, und folgendes war die Begründung: Zu jener Zeit wurde gerade der „Westwall“ gebaut, als Verteidigungslinie gegen Frankreich. Außerdem würde die Pfalz im Falle eines Krieges Aufmarschgebiet sein. Man durfte also den Juden keine Gelegenheit zu Spionage oder Sabotage geben! Am Abend meldete „unser“ Gauleiter Bürkel:
„Mein Führer, ich melde einen judenfreien Gau!“
Meine Mutter und meine Großmutter hatten nur ca. 2 - 3 Stunden Zeit, um ihre Sachen zu packen, zum Bahnhof zu rennen, und dort den ersten Zug zu nehmen, der sie ins „Rechtsrheinische“ brachte. Meine Großmutter Rosa Lindeck, geb. Wolf, die bis dahin mit uns in einem Haushalt gelebt hatte, fuhr zu ihrer Schwester, Frieda Reinstein, nach Würzburg. Meine Mutter kam mit meinem „kleinen Schwesterchen“ Marianne (sie war 12 Jahr alt) nach München. Sie hatten lediglich eine Reisetasche mit ihrem Waschzeug und etwas Wäsche bei sich. - Was nun?“
Dies kann so zeitlich nicht stimmen.
Bürckel hat diesen Satz erst nach dem 22. und 23. Oktober 1940 gesagt, nachdem in Daten und in der Saarpfalz etwa 7.000 Juden nach Gurs in Frankreich depotiert wurden. Möglicherweise konnte Anna Ackermann-Lindeck sich der Deportation als privilegierte Jüdin durch Flucht in rechtsrheinisches Gebiet entziehen. Vielleicht war das Ausweichen nach Berlin auch früher, da sich nach den Novemberprogromen die Rechtslage für die Juden weiter verschärfte.
Bürckel war 1938 nicht in der Pfalz, er war zu dieser Zeit Reichskommissar in Wien. In der Pfalz und an der Saar hatte sein Stellvertreter Ernst Ludwig Leyser das Sagen. Er war nach dem Faschismus bei der Protestantischen Kirche beschäftigt und saß für die FDP im Stadtrat.
Vor Gericht
Vorbemerkungen:
Wegen ihres Aufrufes am 28. und 29. Mai 1987 nach Hasselbach zu kommen, um dort das Cruise-Missiles- Stationierungsgelände „mit unseren Körpern“ zu blockieren, erhielt Irene Quetting einen Strafbefehl des Amtsgerichtes Bonn. Festgesetz wurden 20 Tagessätze zu 70 DM. Am 24. Juni 1988 kam es vor dem Amtsgericht Bonn zum Verfahren. Dort hielt sie folgende Rede:
„Es ist die Erfahrung meines Lebens, dass Gesetz und Recht durchaus nicht immer deckungsgleich sind. 1943 sollte mei- ne Mutter umgebracht werden. Das war Gesetz, denn sie war Jüdin. Recht war das nicht.
Damals habe ich zum 1. Mal gegen das Gesetz verstoßen und nicht nur das, ich habe auch andere zu „rechtswidrigen Taten“ aufgefordert. Ich bin nämlich bei allen unseren Freun- den herumgefahren und habe sie gebeten, meiner Mutter für ein paar Tage Unterschlupf in ihren Häusern zu gewähren. Und siehe da- viele haben es getan! Viele haben lieber Kopf und Kragen riskiert, als dass sie unrecht schweigend mittragen wollten.
Aber die meisten haben geschwiegen, als man die Juden aus ihren Häusern zerrte, in Güterwaggons zwängte und in Vernichtungslager brachte, obwohl dies – entgegen vieler Behauptungen – in aller Öffentlichkeit geschah. Diese fürchterliche Anteilnahmslosigkeit, dieses grausige Schweigen angesichts von Verbrechen, war für mich die größte Ungeheuerlichkeit im sogenannten 3. Reich und unerträglicher noch, als die Verbrechen selbst.
Und heute? – Gewiß, die Staatsform hat sich gewandelt. Niemand wird behaupten wollen, die Bundesrepublik Deutschland sei eine faschistische Diktatur. Und doch ergeben sich einige traurige Parallelen. Auch heute wieder der alte Konflikt zwischen Recht und Gesetz! Auch heute wieder dieses grausige Schweigen. Auch heute schweigt die große Mehrheit während die Mächtigen ein Verbrechen vorbereiten, denn ein Verbrechen ist es, was bei Hasselbach geschieht. Noch immer sind die Cruise Missiles dort stationiert und werden Übungen mit ihnen abgehalten, obwohl USA und UDSSR ein Abkommen geschlossen haben, nachdem sie beseitigt werden sollen und obwohl die UDSSR mit dem Abbau ihrer Raketen bereits begonnen hat. Kein Mensch kann sich die Katastrophe vorstellen, sollten diese Raketen je zum Einsatz kommen. Aber auch wenn das Schlimmste nicht eintreten sollte, ist es noch immer schlimm genug. Diese Raketen tragen Atomsprengköpfe und allein der Umgang mit Atomenergie ist an sich schon ein Verbrechen. Das Zeug strahlt und strahlt – es strahlt in tausenden von Jahren noch. Wir richten die ganze Schöpfung zugrunde, wenn wir so weitermachen. Das ist uns allen längst bewusst, aber genau wie damals schweigt die Mehrheit der Bevölkerung. Genau wie damals lässt man lieber Unrecht geschehen, als möglicherweise in Unannehmlichkeiten zu kommen.
Genau wie damals ist es wieder nur eine Minderheit, die Kritik übt an dem, was die Mächtigen beschließen und genau wie damals wird diese Minderheit diskriminiert, werden wir zu gewalttätigen Chaoten, Terroristen, oder gar Vaterlandsverrätern abgestempelt. Und auch die Regierenden verhalten sich ähnlich wie damals. Ein Herr Zimmermann denkt sich immer schärfere Gesetze aus und das tut er angeblich zum Schutze der inneren Sicherheit.
Alles wie gehabt – nur eines nicht!
Damals ging es um die Juden – heute geht es um unsere eigenen Kinder! Unser eigenen Kinder sind bedroht von diesen Waffen, von einer unverantwortlichen Ausbeutung der Natur, von der Atomindustrie...
Und wir sollen uns nicht wehren dürfen? Es soll eine Straftat sein, dass wir unsere Kinder schützen wollen? Nein, ich will dazu nicht schweigen!
Niemand, auch Herr Zimmermann nicht, wird mich daran hindern können, für die Zukunft meiner Kinder und die Erhaltung der Schöpfung zu kämpfen. Ich bin Christin und als solche glaube ich, dass ich mich vor einer sehr viel höheren Autorität zu verantworten habe, als vor einem Herrn Zimmermann.“